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Thomas Bernhards Testament - Lindenberg

Lindenberg liegt im Allgäu und man denkt, daß es sich nicht unweit des Hafens, des Tores zur Welt von Lindau befindet. Dem Bahnreisenden wird diese Illusion jedoch alsbald zum Verhängnis. Zu den üblichen Stoßzeiten, d.h. mindestens zwei mal täglich quält sich ein mit lieblicher Landjugend gefüllter Bus einen unmäßigen Berg herauf. Das unpassende Verkehrsmittel stoppt an sagenhaften Orten. In den häufigsten Fällen handelt es sich hierbei jedoch um industrielle Käsereien (Lindenberger!), Zukunftsvisionen der Region, Mahnmale der Zivilisation und billiger Völlerei inmitten bedrohlicher Berglandschaft. Manchmal hält das Gefährt auch grundlos, denn Passagiere scheinen ab einer magischen Höhengrenze nicht mehr zu existieren. Vom Bodensee ist ohnehin schon längst nichts mehr zu sehen. Auf halber Strecke kreuzt eine betonbegrünte Autobahn den Weg - ein weiteres Tor zur Welt - Österreich, Haider, Hitler und was es sonst noch für schlimme Finger in der Weltgeschichte gibt.

Hat man den gigantischen Berg erklommen, präsentiert sich endlich Lindenberg in seiner vollen Pracht. Auf einer Art steiler Hochebene mit starrem Blick ins von Bergen eingeklemmte Österreich, liegt die entvölkerte Stadt. Man fragt sich, wer wohl auf die absurde Idee gekommen sein mag an dieser unwirtlichen Stelle eine Besiedelung zu gründen. Lindenberg gehört zu jenen Orten in denen nicht nur Gastronomien, sondern auch das Wohnhaus des ehemals amtierenden Bürgermeisters von 1933 ein Hinweisschild verdient. Und das obwohl Lindenberg ja nun einige Sehenswürdigkeiten zu bieten hat. Da gibt es z.B. die Strohhutfabrik, welche wohl im Umkreis von 300 km als einzigartig zu betrachten wäre. Die Lindenberger selbst sind jedoch nicht nur stolz auf ihre Strohhutfabrik, sondern ebenso erfreut über das gigantische Gotteshaus, das mitten auf dem Rathausplatz dümpelt. Es ist anzunehmen, daß eine sowohl unpassendere als auch geschmacklosere Kirche an keinem anderen Ort zu finden ist- auch das macht Lindenberg so einzigartig.

Die beklemmende Stimmung der Stadt mit ihren leerstehenden Behausungen und merkwürdigen Figuren, einsam eingezwängt in düstere Anhöhen, erinnert an die Prosa Thomas Bernhards. Obwohl Thomas Bernhard hier vermutlich nie weilte, eröffnet sich dem Besucher von Lindenberg ein mildes Verständnis für dessen Literatur - schlagartig meint man alles zu begreifen und blickt finster nach Österreich.

 

 

Strommasten als Baumschulen und anderer Absonderlichkeiten - Langenfeld

Langenfeld im Rheinland ist meine Heimatstadt. Hier bin ich zwar nicht geboren, habe aber in einer der unzähligen Vorstädte, zwischen Düsseldorf und Köln oder genauer gesagt zwischen Henkel und Bayerwerk zu denen auch Langenfeld zählt, meine unglückliche Kindheit verbracht. Die Tatsache, daß meine Kindheit nicht so verlaufen ist, wie ich es mir gerne gewünscht hätte, ist vielleicht wie so vieles auf besagtes Langenfeld zurückzuführen. Eigentlich bin ich ja auch in Richrath aufgewachsen und das hat nichts mit Langenfeld zu schaffen, genausowenig wie man auf die vermessenen Idee kommen könnte, daß Immigrath in irgendeiner Beziehung zu Richrath stehen könnte. Hier wohnen wahrhaftige Separatisten und Patrioten der mittelalterlichen Postkutsche, die einstmals den Sumpf durchquerte - schauderhaft ist es überall.

Die Stadt nennt über 50.000 Einwohner und aufgrund der maßlosen Längenausdehnung, deren Ursache in der sinnlosen Aneinanderstückelung gesichtsloser Dörfer sowie separatistischer Bestrebungen zu vermuten ist, mindestens 5 Autobahnausfahrten ihr eigen. Es gibt hier ohnehin wunderschöne Autobahnen, die sich kunstvoll in die flache, sandige Rheinlandschaft fügen und häufig weihnachtlich beleuchtet sind. Manchmal endet die ausgeprägte Infrastruktur auch im Nichts oder in einer großen ästhetischen Schlaufe die das Ende der Autobahn in einem Feldweg der geradewegs zu einem interessanten Bayerversuchsfeld führt, androht.

Langenfeld hat in seiner Nachkriegsexistenz niemanden und nichts hervorgebracht. Dennoch findet man die absonderlichsten Architekturen: umgebaute Bestallungen, Hütten, Häuser, die diese Bezeichnung nicht verdienen und die sogenannten in den 70erjahren entstandenen Siedlungen. Die ursprünglichen Behausungen erreichen selten den zweiten Stock und melden bei nahezu jedem, in der Gegend 300 mal im Jahr anfallenden Großniederschlag, Land unter. Die Parterrefenster befinden sich obszönerweise meistens in Schritthöhe der ahnungslosen Passanten und sind demzufolge mit altmodischen Gardinenbahnen vergittert. Etliche Häuser, sofern sie nicht grau sind oder aufgrund mangelnder Fassadenfläche mit Farbresten beträufelt wurden, ziert Klinker oder eine pappenartige Kunststoffmasse, die Klinker simuliert.

Für die Ansiedelung merkwürdiger Industriezweige scheint man jedoch viel getan zu haben. Wer kennt nicht die Aragesundheitslatschen oder den legendären Eismann? In unmittelbarer Nähe meines Elternhauses befand sich ehemals eine Protesenfabrik, die nun leider einer Singlewohnanlage weichen mußte. Vor dem Gelände der Protesenfabrik pflegten wir als Kinder im bürgerlichen Schlamm zu spielen, betreten haben wir das Gelände jedoch nie, da wir vermuteten, daß dort ohnehin Panzer hergestellt würden. Meine Eltern besaßen einen ausgedehnten Garten, in dem wir uns als Kinder, wenn wir nicht gerade auf der Straße rumlungerten, aufhielten. Alle Kinder spielten in den großen Gärten, denn das Umland außerhalb der Jägerzäune erschien nicht sonderlich reizvoll. Hinter den Häusern der Straße erstreckte sich größenwahnsinniger Ackerbau und ein waldähnlicher Grünstreifen, dessen Bäume die Höhe zierlicher Baumschulidötzchen niemals überschritten hat. Das Braun - Grau - Grün mutierte unlängst zur ebenso geschmacklosen wie postmodernen Kleinstfamilieneigenheimwohnanlage (Mama, Papa, Kind und Hund). Nun hausen Menschen anstelle von Weizen und überdüngten Äpfeln inmitten der surrenden Strommasten, doch vielleicht gedeihen auch die Nichtsahnenden in ihren neuen Klinkerbauten auf dem verseuchten Grund. Hier traut man sich nicht Bodenproben zu entnehmen, merkt man doch sofort woher der Wind weht - Bayer oder Henkel? Antibiotika oder Persil?

 

 

Wuppertaler Frühstück

Die A 46 ist der Nabel der Welt. Aus diesem Grunde kann man auf diesem eingängigen Weg auch Wuppertal erreichen. Die Stadt verfügt ohnehin über sowohl großartige als auch absonderliche Infrastrukturen, die häufig miteinander kollidieren. Der Widerstreit zwischen öffentlichen Verkehrsmitteln und sogen. Individualverkehr wird in Wuppertal auch auf dem Kriegsschauplatz der Autobahn ausgetragen. Hier kreuzen sich nicht nur nach einem ausgeklügelten System angeordnete Autobahnen, auch der Endausläufer der glorreichen Schwebebahn überquert melodiös ohne Vorwarnung besagte A 46.

Eine schöne Hügellandschaft hätte es sein können, das bergische Land, und der verwirrte Besucher denkt sogleich an rettende Naturkatastrophen - Wuppertal fluten und die Welt wäre in Ordnung - versunken könnte auch diese Stadt zu glänzender Schönheit erblühen. Die Villen des Briller Viertels hätten somit endlich eine Daseinsberechtigung am weiten Wasser inmitten des ständig tobenden Klimakollaps.

Wer sagt, daß Wuppertal keine Attraktionen zu bieten hat, der lügt. Zumindest verfügt Wuppertal über großartige verblühte und aktuelle Geistes und Kulturgrößen wie Friedrich Engels, Johannes Rau und Pina Bausch. Pina Bausch, Wahlwuppertalerin in ewigen Exil, durfte ihr Ensemble sogar in geistiger Nähe zum Schauspielhaus, im Obergeschoß von Mc. Donalds schinden - ein Privileg, welches nicht jedem zugestanden wurde.

Ungewöhnlich für die Gegend erscheint die Vermutung, daß die Spezies des Fußgängers, im besonderen die des Rentnerfußgängers seit einem Jahrhundert in die städtische Verkehrsplanung integriert wurde. Wuppertal besticht durch mediterrane Treppengestaltung, die es dem Läufer ermöglicht, sich abseits breiter, todbringender Verkehrswege, eingekesselt zwischen schmuckbefreiten, fensterlosen Häuserlängsseiten frei zu bewegen. Notfalls kann sich der Läufer auch an den Hausteilen oder Stufen abstützen. Hier in den Zivilisationsschluchten Wuppertals präsentiert sich das eigentliche Gesicht der Stadt in neu - sachlicher Weise. Nahezu jeder Treppenabsatz wird von außergewöhnlichen Stilleben zum Exponat gekürt - Wuppertaler Frühstück: Peperoni, Tomate, Fleischreste - prächtige Döner, verziert mit mehr als einem Hauch von Alkohol. Manchmal zeigt sich inmitten der Farbenpracht das jungfräuliche Weiß einer eindeutig unverdauten Papierserviette. Die Eßkultur offenbart sich auf dem Treppenabsatz.

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